Nicht nur hier auf unserem Board, sondern auch in vielen anderen Foren und auf diversen Social-Media-Plattformen kam es nach der Niederlage gegen die Arizona Cardinals zu Unmutsäußerungen in Richtung von 49ers-Head Coach Kyle Shanahan. Das ging – und geht – bis hin zu Forderungen nach seiner Entlassung. Nach dem Willen einiger sollte das am besten sofort passieren, spätestens aber nach Ende der Saison, wenn die Playoffs erneut verpasst werden sollten. Oder vielleicht auch dann.
Bevor ich darauf eingehe, eine Vorbemerkung. Auch ich sehe Shanahan nicht völlig unkritisch. Er hat Fehler gemacht, er macht Fehler, und er ist ein gutes Stück weg von Perfektionismus. Ihn wegen dieser Fehler jetzt oder nach der Saison vom Hof zu jagen, wäre aus meiner Sicht jedoch völlig unsinnig, und u.U. für die Franchise fatal.
Einige, die hier diesen Text lesen, werden vielleicht auch in den letzten Tagen auf ninersnation.com einen Artikel von Jordan Elliott gelesen haben, in dem es darum geht, dass die Forderung nach einer Entlassung von Shanahan die stärkste Überreaktion auf die Niederlagenserie darstellt. Elliott bringt einige Gründe vor, die dagegen sprechen, dass Shanahan um seine Entlassung fürchten muss. Ich werde diese Passagen nicht 1-zu-1 übersetzen, aber die Grundgedanken aufgreifen und noch ein paar weitere Aspekte einbringen, die von Elliott nicht erwähnt wurden, aus meiner Sicht jedoch nicht unerheblich sind. Wer (zunächst oder im Anschluss an diesen Text) das Original lesen möchte:
Kyle Shanahan isn’t anywhere near the hot seat. Los geht’s, aber Vorsicht: Das ist kein kurzer Text!
Der Record von Shanahan bei den NinersSchaut man auf die nackten Zahlen, so sieht die Bilanz von Shanahan als Head Coach der Niners nicht gerade beeindruckend aus. Stand jetzt, in der Bye-Week der Saison 2021, steht diese Bilanz inklusive Playoffs bei 33 Siegen und 39 Niederlagen. Das ist nicht gerade Eliteklasse, aber immer noch besser als manch andere Franchise im selben Zeitraum. Klar, das alleine ist kein Grund, Shanahan zu behalten. Schließlich sollten wir uns nach oben orientieren. Aber ist es ein Grund, ihn zu entlassen?
Folge dem GeldVor etwas mehr als einem Jahr, im Juni 2020, gaben die 49ers Shanahan eine Vertragsverlängerung. Oder genauer gesagt: Die letzten drei Jahre seines alten Vertrages wurden gestrichen, und Shanahan bekam einen neuen Sechs-Jahres-Vertrag, der ihn bis einschließlich der Saison 2025 an die 49ers bindet. Da es für die Gehälter der Angestellten, anders als bei denen der Spieler, keine Obergrenze gibt, müssen die Gehälter auch nicht veröffentlicht werden. Es gibt aber gute Gründe, anzunehmen, dass Shanahan mehr als $10 Mio/Jahr erhält.
Vergessen wir in dem Zusammenhang nicht, dass Gehälter von Coaches, insbesondere von Head Coaches, normalerweise vollständig garantiert sind. Das bedeutet, dass die Familie York bei einer Entlassung von Shanahan nach dieser Saison alleine für ihn mindestens $50 Mio., eher mehr, zahlen müsste. Und ein neuer Head Coach würde das vermutlich auch nicht für einen Apple und ein Ei trainieren.
Ja, die NFL und das Levi’s Stadium sind eine Gelddruckmaschine. Aber machen wir uns nichts vor: Über $50 Mio., plus das, was andere Coaches, die ebenfalls entlassen würden, sind auch für Jed York kein Taschengeld. Der neue Sechs-Jahres-Vertrag ist eine Versicherung, dass Shanahan so schnell nicht gehen muss.
Die Leistung bestimmt nicht den Zeitpunkt der TrennungAlso, zumindest nicht alleine. Eine Bilanz von 33-39 (31-38 in der regulären Saison) ist, wie oben bereits erwähnt, nicht wirklich prickelnd. Aber diese Bilanz, so frustrierend sie auch sein mag, ist ohne Kontext nicht viel wert. Auch der Hinweis darauf, dass das Team ohne (einen gesunden) Jimmy Garoppolo nicht gewinnen kann, braucht einen Kontext. Schaut man sich die Bilanz von Garoppolo als Starter der 49ers genauer an, so relativiert sich seine insgesamt immer noch sehr gute Bilanz. Zu Garoppolo später mehr, aber zuvor werfen wir mal einen Blick zurück auf das Ende der Saison 2016.
Eine Franchise am AbgrundJa, es tut weh, aber dieser Blick zurück ist meiner Überzeugung nach notwendig. Wobei ... wir sollten eigentlich noch weiter zurück schauen, nämlich in den Januar 2002. Die Älteren werden sich erinnern, dass das der Monat war, in dem die 49ers Head Coach Steve Mariucci entlassen haben. Und das nach einer Niederlage in den Divisional Playoffs gegen die Tampa Bay Buccaneers! Diese Niederlage war natürlich nicht der einzige Grund für die Trennung; vielleicht war das nicht mal der wichtigste Grund. Aber diese Entlassung war der Auftakt für eine weniger schöne Zeit.
Mit Head Coach Dennis Erickson gab es 2003 eine Bilanz von 7-9, was noch recht ordentlich aussieht. Nach einer 2-14-Saison 2004 aber wurde Erickson schon wieder entlassen, und Mike Nolan übernahm. Dreieinhalb Jahre war er am Schaltpult, musste aber nach 18-37 seinen Hut nehmen. Abgelöst wurde er während der Saison 2008 von Mike Singletary, der auch in der darauffolgenden Saison Head Coach blieb. Zumindest bis nach dem 15. Spiel, denn mit einer Gesamtbilanz von 13-18 wurde auch er entlassen, ehe Jim Tomsula für ein Spiel – das die Niners tatsächlich gewinnen konnten – übernahm.
Danach kam Jim Harbaugh, und mit ihm kam der Erfolg zurück nach San Francisco. 13-, 11-4-1, 12-4, so lauten die Bilanzen der ersten drei Jahre. Dazu wurde dreimal in Folge das NFC Championship Game erreicht, das 2012 gewonnen wurde, ehe im Harbowl die Baltimore Ravens mit John Harbaugh als Head Coach den Niners die sechste VLT verwehrten. Bereits während und besonders nach der Saison 2013 mehrten sich aber auch kritische Stimmen. Das meist ultrakonservative Playcalling, die fast durchweg verbissene Art von Harbaugh und manches, was wir aus der Ferne nicht oder nicht richtig mitbekamen – all das sorgte dafür, dass die Gräben zwischen Harbaugh und dem Front Office aufrissen und sich vertieften. Nach der Saison 2014 war Schluss, und es übernahm Jim Tomsula.
Der war jedoch als Head Coach hoffnungslos überfordert und musste nach nur einer Saison Platz machen für Chip Kelly. Am College als Head Coach durchaus erfolgreich und angesehen, als Head Coach der Niners aber eine absolute Fehlbesetzung. Auch er musste nach nur einer Saison gehen. Die Bilanz unter Tomsula und Kelly: 7-25. Viel schlimmer jedoch war, dass der Roster der Niners ausgeblutet war.
Lange Rede, nicht ganz so langer SinnEs ist also gar nicht so einfach, einen wirklich guten Head Coach zu finden. Mit Kyle Shanahan bekamen die Niners 2017 einen vielversprechenden Head Coach. Jung, dynamisch, ein Offense-Genie. Dazu noch John Lynch als General Manager, und die Zukunft schien rosig zu sein.
Vergessen werden darf dabei natürlich nicht, wie es um das Team stand. Wie eben schon geschrieben, stand der Roster vor einer Rundumüberholung. Das übrigens ist ein Unterschied zu Sean McVay, mit dem Shanahan gerne mal verglichen wird. Der hatte bei seinem Start bei den Los Angeles Rams andere, deutlich bessere Voraussetzungen. Soll nichts entschuldigen, aber meiner Ansicht nach darf man das nicht unberücksichtigt lassen.
Das DrumherumEbenfalls nicht vergessen sollte man bei allem Umut und bei aller Enttäuschung über die aktuelle Situation, dass die Niners ab 2017 auch an allem rund um das Team zu arbeiten hatten. Es ging darum, eine völlig neue, andere Kultur zu etablieren. Mit der Verpflichtung von Shanahan und Lynch wandelte sich eine geschwätzige Franchise, die mehr Lecks als Dichtungen zu haben schien, in eine geschlossene Franchise, aus der nur das nach außen dringt, was nach außen dringen soll. Dies in relativ kurzer Zeit zu bewerkstelligen ist eine Leistung, die nicht zu unterschätzen ist.
Zurück zu Lück … nee, anders: zu GaroppoloInsgesamt verzeichnen die Niners mit Garoppolo als Starter 26 Siege und 11 Niederlagen (inkl. Playoffs). Schade, dass Garoppolo nicht verletzungsresistenter ist, oder? Aber zurück zur Bilanz. Splittet man diese Bilanz auf nach Spielzeiten, dann sieht es so aus: 2017 5-0, 2018 1-2, 2019 15-4, 2020 3-3, und 2021 2-2. Also 21-6 in den ersten knapp zweieinhalb Jahren, seitdem 5-5. Nimmt man als Ausgangspunkt die erste Niederlage der Saison 2019 (in Woche 10 gegen die Seahawks), dann sieht die Bilanz von Garoppolo auch nicht gerade toll aus. Er steht dann nämlich bei mittelmäßigen 12-9. Ja, immer noch mehr als die Hälfte der Spiele gewonnen, aber nach 14-2 in den ersten 16 Spielen nun 12-9? Lassen wir die laufende Saison außen vor, dann reden wir über eine Bilanz von 10-7. Im Zusammenhang mit der Verletzungsanfälligkeit von Garoppolo wird vielleicht klar, warum sich die Niners in der letzten Offseason um einen anderen QB bemüht hatten.
Das Problem WatsonQB DeShaun Watson wäre heute bei den Niners, gäbe es gegen ihn nicht schwerwiegende Anschuldigungen. Davon bis ich jedenfalls fest überzeugt. Wie auch immer diese Sache ausgeht: Ich kann mir nicht vorstellen, dass Watson jetzt noch bei den Niners landet. Die Niners hatten bei den Detroit Lions angefragt wegen Matthew Stafford, auch mal ganz kurz bei den Green Bay Packers wegen Aaron Rodgers. Alles Indizien dafür, dass man einen anderen, zuverlässiger verfügbaren Quarterback wollte. Beide Optionen waren dann schnell erledigt, und die Niners drafteten Trey Lance. Womit wir beim nächsten Punkt wären, der gegen eine (schnelle) Entlassung von Shanahan spricht.
Der Uptrade für LanceJa, ich weiß. „Ein Uptrade ohne zu wissen, wen man will“. So oder ähnlich liest man es immer wieder. Mag auch stimmen, aber die Niners waren sich allem Anschein nach sicher, dass sie an Position #3 im Draft 2021 einen Spieler bekommen können, der passt. Der die Franchise in den nächsten Jahren bestimmen wird. Der das Gesicht der Franchise sein wird. Am Ende wurde es mit Trey Lance der unerfahrenste Quarterback. Einer, der 2020 nur ein Spiel absolviert hat. Einer, der nicht bei einem der wirklich großen Colleges gespielt hat. Und noch dazu der jüngste der Quarterbacks, denen vorhergesagt wurde, dass sie in der ersten Runde gedraftet werden. Aber eben auch einer, von dem viele sagen, dass er gerade unter Shanahan ein enormes Potenzial hat.
Machen wir uns nichts vor. Ein Uptrade dieser Dimension passiert nicht oft. Als Head Coach / General Manager einer Franchise wirst du aller Voraussicht nach keine zweite Chance für einen solchen Uptrade bekommen. Aber solch ein Uptrade wird auch nicht einfach vom General Manager oder vom Head Coach entschieden. Ohne Zustimmung des Owners geht da gar nichts. Und denen muss und wird klar gewesen sein, dass ein Rookie-QB immer Zeit brauchen wird. Auch Justin Herbert und Joe Burrow haben schließlich (bisher) noch keinen Super Bowl gewonnen. Und Patrick Mahomes? Der ist die Ausnahme, nicht die Regel. Wenn man sich das bewusst macht, dann weiß man auch, dass Jed York Shanahan die Zeit geben wird, Trey Lance zu entwickeln. Das kann nicht vollständig innerhalb einer Saison erfolgen. Warum sollte man dann Shanahan nach dieser einen Saison entlassen?
Ist der Trainerstuhl vielleicht doch schon wenigstens etwas temperiert?Kyle Shanahan hat sicher nicht alles richtig gemacht in seiner Zeit bei den Niners. Es gibt einiges, was zu kritisieren ist. Ja, auch das Playcalling, wobei ich das nicht ganz so kritisch sehe, wie manche andere auf unserem Board oder anderswo im Internet. Der Umgang mit Brandon Aiyuk, vorher mit Dante Pettis, wirft Fragen auf. Auch die Tatsache, dass Zweitrundenpick OG Aaron Banks bisher trotz einiger Probleme in der Offensive Line kein einziges Mal aktiv war, ist kein gutes Zeichen. Dass Drittrundenpick RB Trey Sermon bisher eine deutlich kleinere Rolle spielt als Sechstrundenpick Elijah Mitchell, und dass der zweite Drittrundenpick CB Ambry Thomas bisher so gar nichts beitragen kann, ist nicht gut. Die Verletztenmisere, die besonders 2020 zuschlug und maßgeblich zum schwachen Abschneiden im vergangenen Jahr beitrug, darf sicher nicht außer Acht gelassen werden. Ob das wirklich nur Pech war (und seit einigen Jahren so ist), lässt sich von hier aus nicht beurteilen. Ein ungutes Gefühl bleibt aber.
Ein weiterer, in meinen Augen absolut berechtigter Kritikpunkt, ist, dass es bisher nicht gelungen ist, einen über längere Zeit zuverlässigen und guten Returner zu verpflichten oder aufzubauen. Zwar lassen sich Punt- oder Kickoff-Return-Touchdowns nicht planen, und sie kommen dazu noch recht selten vor. Aber etwas mehr als das, was die Niners in den letzten Jahren im Return Game geleistet haben, wäre schon hilfreich.
Von daher könnte es schon sein, dass der Trainerstuhl von Shanahan nicht mehr eiskalt ist. Aber wer sitzt schon gerne auf einem eiskalten Stuhl? Dennoch darf ein Punkt nicht vergessen werden. Das Schicksal von Shanahan hängt mit dem von Trey Lance zusammen. Dass Lance einige gute Ansätze hat, konnte er letzten Sonntag zeigen. Wer es nicht glaubt, sollte sich das Spiel in aller Ruhe nochmal anschauen. Es gab einige Plays, die eine Idee davon vermitteln, wie die Niners mit einem gereiften Trey Lance auftreten können, und was für eine Bedrohung dieses Team dann für alle anderen darstellen kann. Aber Lance braucht noch Zeit. Die Frage, ob man ihn jetzt weiterhin starten lassen sollte, klammere ich hier bewusst aus. Das ist ein eigenes Thema mit vielen unterschiedlichen Aspekten.
Jordan Elliott schreibt davon, dass frühestens zum Ende der Saison 2023 ein faires Urteil darüber möglich sein wird, ob Lance sich wirklich zu dem QB entwickelt, den Shanahan und Lynch in ihm gesehen haben, und dass Shanahan bis dahin auf alle Fälle als Head Coach der Niners weiterarbeiten kann. Mag sein, aber meiner Meinung nach sollte bereits im Verlauf, spätestens gegen Ende der kommenden Saison die generelle Richtung klar sein. Fällt Shanahan nicht andere Entscheidungen, die die Franchise nachhaltig beschädigen, dürfte er, unabhängig von der Entwicklung von Lance, bis mindestens Ende der nächsten Saison Head Coach der Niners sein. Geht sich das mit Lance aber aus, und entwickelt sich der Rest des Teams drumherum inkl. der Coaches entsprechend, dann wird die Saison 2025 voraussichtlich nicht die letzte Saison der Niners mit Shanahan an der Seitenlinie sein.
Quellen: Jordan Elliott (ninersnation.com), pro-football-reference.com, wikipedia